ELENA KLIMOWA (Pseudonym Elena Smorodina)

DAS GLÜCK DES HASEN PROCHOR

© Illustration Woldemar Schulz

Prochor liebte die Ferien nicht. Sie gab es viermal im Jahr. Prochor hatte das Zählen bis vier gelernt, um zu verstehen, wann man sich beruhigen konnte und keine Unannehmlichkeiten befürchten musste – gerade bis zum Neujahr.
Nun ja, Prochor war ein kleines, gestricktes Häschen, wollig und glänzend, mit  einer rosigen Nase. Wenn Sie meinen, dass solche Hasen nicht zählen lernen und  nur herumsitzen können, wohin sie ihre Besitzerin gerade gesetzt hat, dann verstehen Sie von Hasen gar nichts.
Prochor liebte die Ferien nicht, weil er seine Besitzerin liebte. Im Herbst, im Winter und im Frühling, wenn die Ferien anfingen, fuhr sie zu ihrer Großmutter. Was „zur Großmutter zu fahren“ bedeutet, wusste Prochor natürlich nicht. Aber eine solche Reise dauerte wenigstens nicht lange. Im Sommer fuhr Prochors Besitzerin „für zwei Perioden ins Lager“, und das war viel schlechter. Bevor sie ihn verlassen musste, sagte sie ihm: „Prochor, merke dir, dass du mein Lieblingshase bist. Setz dich aufs Fensterbrett, ich lege ein kleines Halstuch unter dich, dass es dir nicht kalt wird, - und warte auf mich. Am Fenster siehst du mich früher als alle anderen. Ich werde dich vermissen. Sehn´  auch du dich  nach mir, Prochor!“
Als ob Prochor sie nicht vermissen würde, so ganz allein im Zimmer. Die anderen Hasen, der Graubär mit seinem Pullover und die Puppe mit ihren großen dummen Augen, ihrer dünnen Stimme und die ganze Menge von glitzernden und rauschenden Dingen in ihrer Schachtel – sie alle wurden einfach nicht mitgezählt. Der Bär hatte, um von seiner Besitzerin ein bisschen mehr Aufmerksamkeit zu erfahren als Prochor, sogar seinen Pullover etwas eingerissen, erreicht hatte er damit gar nichts.
„Prochor, ich fahre weg“, sagte die Besitzerin nur ihm, dem Hasen Prochor! Schau mal, was ich dir jetzt schenke – und sie wickelte Kopf und Hals des  Hasen mit etwas Weichem und Warmem ein. „Das sind eine Mütze und ein Schal. Jetzt ist es Winter. Und am Fenster zieht es. Ich will doch nicht, dass du dich erkältest! Bis bald. Prochor!“
Das Mädchen schlug die Tür zu, und Prochor begann zu warten. Er sah durch das Fenster, wenn es hell war, aber zugleich auch, wenn es dunkel wurde und die Straßenlaternen leuchteten. Prochors schwarze Knopf-Augen schmerzten. Aber er ließ nicht nach, nach allem zu schauen, was sich hinter dem Fenster abspielte. Er wollte auf jeden Fall als Erster seine Besitzerin wiedersehen und sich als Erster über ihr Kommen freuen können. Prochor konnte nicht sprechen, schon gar nicht durch das ganze Haus schreien:
„Sie ist zurückgekommen!“.
Aber in seinem Inneren schrie alles, so dass Prochor ein ganz anderes Leben beginnen musste.
Natürlich ging seine Besitzerin aus dem Haus. Das hieß: „In die Schule, wo die Kinder lernen“. Das Mädchen versuchte sogar, Prochor das Lesen und Zählen beizubringen. Damals lernte Prochor auch, bis vier zu zählen. Aber dann wurde ihm das langweilig.
„Prochor, mit dir werden wir nur spielen. Denn es reicht mir, wenn ich in der Schule lernen muss!“, sagte seine Besitzerin einmal. Und sie spielten! Die Reisenden auf einem Schiff, die einen Schiffbruch überlebten. Zwei Adler, Bergvögel auf einem Felsen -  das Mädchen kletterte mit Prochor unter dem Arm auf den Schrank-,  ein afrikanischer Stamm, der nur mit Tanzen beschäftigt ist. Dann hatte man manchmal kräftig an die Wand geklopft. Das Mädchen seufzte: „Die Nachbarin Tante Mascha wird sich wieder einmal bei meiner Mutti beschweren!“. Der afrikanische Stamm musste schnell zu Bett gehen…

Das Leben von Prochor war wunderschön. Er war mit seiner Besitzerin, wo es nur ewiges Eis gibt, auch dort, wo man nur Sand findet. Er war mit Hunden und Kamelen unterwegs, er begleitete die Prinzessin auf den Ball und floh mit ihr vor bösen Räubern. Man muss einfach einsehen, wieviel Hasen lernen und wissen können, wenn man sich mit ihnen ordentlich beschäftigt!
Eines Sommers, als Prochors Besitzerin während der unerträglichsten Ferien  weg war, kam ins Zimmer die große Wirtin. Prochor wusste genau, dass man sie „Mama“ nannte. Sie nahm Prochor in die Hand, zupfte an seinen Ohren und sagte: „Nun, Schluss, deine Wirtin ist erwachsen geworden. Wir legen dich in den Schrank“. Sie schob Prochor in eine Schachtel, in der schon der Bär mit seinem zerrissenen Pullover und die dumme rosige Puppe lagen. Prochor wollte schreien. Aber das konnte er ja nicht. Es schrie nur in seinem Inneren:
„Nein, meine Besitzerin kommt doch zurück. Ich warte auf sie, sie hat mich gebeten, auf sie zu warten mich nach ihr zu sehnen! Und sie vermisst mich doch auch selbst!“
Aber niemand hörte Prochor.
Die Schachtel knallte zu, und es war stockdunkel. Wie lange das dauerte – das konnte Prochor nicht sagen. Lange. Sehr lange. Sehr – sehr – sehr lange. Aber Prochor wusste, dass die Dunkelheit irgendwann zu Ende gehen musste, am Ende würde ihre Besitzerin Prochor doch finden. Sie hatte doch zugesagt, dass sie mich vermissen werde!

Einmal spürte Prochor, dass mit der Schachtel, in der es so lange nur dunkel und ruhig war, etwas geschah. Sie wackelte und bewegte sich – und auf einmal war es ganz hell! Prochor hätte am liebsten die Augen zusammengekniffen. Aber er sah mit seinen schwarzen Knopfaugen die zwei Wirtinnen an, die Mutter und das Mädchen. Sie beugten sich über ihn. Die eine der beiden war größer, viel größer als die, an die sich Prochor gewöhnt hatte. Das war seine Besitzerin, ganz genau. Sie lächelte wie früher – zuerst mit den Augen. Und dann – mit dem ganzen Gesicht. Sie ergriff Prochor wie früher und flüsterte:
„Ich habe dich vermisst!“
„Ich dich auch!“, wollte Prochor sagen. Aber selbst wenn er sprechen könnte, er hätte vor lauter Verwunderung kein Wort herausbringen können. Die andere Wirtin sah genau so aus, war aber kleiner, wesentlich kleiner. Sie ergriff  Prochor und lief  und tollte mit ihm wie wild im Zimmer umher.
„Ist er das, Mama? Ist das Prochor, dein Lieblingshase? Der auf dich immer auf dem Fensterbrett gewartet hat? Mama! Ich nehme ihn morgen mit in den Kindergarten! Und wir werden uns nie, nie mehr trennen! Und jetzt spielen wir Bergadler, die sein Nest auf dem Gipfel des Felsens haben. Wie bist du eigentlich auf diesen Schrank geklettert, Mama? Vom Sofa aus?“

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